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Der originale Text der NZZ ist gegen Gebühr im dortigen Archiv zugänglich. Wir stellen hier eine Kopie davon zur Verfügung:


Ornament und Versprechen xxxxxxxxxxxxEin Buch über nicht nur Nietzsches Tapete

Kunst steht bekanntlich in der Gefahr, von den unzähligen Dingen erdrückt zu werden, die unter ihrem Namen auftreten. Zwar ganz ohne Dinge geht's kaum, aber die schrankenlose Ausbreitung künstlerischer Artefakte - man denke allein an die Menge der Leinwände! - verlangt nachdrücklich nach Gegenwehr. Anders formuliert: Um dem Versprechen eines nachmusealen Kunstbegriffs gerecht zu werden, muss von den Kunstwerken Abstand genommen werden. Es kommt allerdings schon darauf an, wie man das anstellt.

Das «Archiv beider Richtungen» (ABR) tut es mit Witz, Ironie und unter Verwendung manch höherer Bedeutung, Letzteres mit genauem Blick für die damit gewonnenen Fallhöhen. Prägend waren die frühen achtziger Jahre, als die Gruppe sich im kunstsinnigen Stuttgart zusammenfand. «ABR-Stuttgart. Service und Produktion im Wartesektor», wie sie sich damals nannten, probte gelassenes Durchhalten in Zeiten, da die «Wilde Malerei» ihre Emphase auslebte. Man lernte daraus, dass es in der Gegenwartskunst offensichtlich vor allem um Tapetenwechsel ging. Und weil es eine treffende Beobachtung an Gegenwartskunst ist, dass die Tapeten genauso wichtig sind wie die davor verhandelten Themen, war auch schon der Gegenstand gefunden, zu dem ABR immer wieder zurückkehren sollte: eben die Tapete.

Wer zweifelt, dass durch sie sich mannigfache und immer wieder überraschende Einsichten gewinnen lassen, der greife zur jüngsten Veröffentlichung der verbliebenen zwei Archivare Harry Walter und René Straub. Fast alles nämlich lässt sich von der Tapete aus erreichen: zum Beispiel über ein ganz bestimmtes Tapetenstück in Sils Maria Nietzsches Wiederkunftsgedanke, aber auch Nietzsches Stil, das Ornament, die Groteske, Modelleisenbahnen, Geschichten aus dem Wirtschaftswunderland Deutschland, Heidegger, das Möbius-Band, die kolportierten letzten Worte Oscar Wildes.


Das ist nicht ganz ernst zu nehmen, aber im Detail so elegant und belesen, dass man kaum zu sagen weiss, wo genau das Terrain nun eigentlich abschüssig wird. «Ewig währt am längsten», heisst dieser Text, und gemeinsam mit anderen in dem mit Bildern grosszügig ausgestatteten Band demonstriert er virtuos, wie sich aus dem scheinbar selbstvergessenen Geist von Philologie, Archiv und penibler Recherche wahrlich eigenartige «Rapporte» - so heissen die wiederkehrenden Tapetenmotive in der Fachsprache - erzeugen lassen. Die Einsichten sind schwer zu resümieren, obwohl man sie doch nicht abstreiten kann, und unterhalten ist man dabei auch - eine veritable Kunstleistung also.

Helmut Mayer, Neue Zürcher Zeitung, 28. Januar 2002, Ressort Feuilleton

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